Ich wurde neulich von einem
Leser gefragt, wie es denn um die Alternativen der real existierenden
Europäischen Union bestellt sei, ob nicht nur die Möglichkeit einer
Renationalisierung Europas bestünde. Eine Besinnung auf das Nationale wäre doch
der bequemere Weg, oder?
Ja, ich weiß. Dieser Tage nicht auf
die EU zu schimpfen, mutet zunächst etwas widersinnig an. Dennoch lohnt es
sich, einmal der Wurzel allen Übels innerhalb Europas auf den Grund zu gehen.
Ohne sonderliche Anstrengung wird man bei diesen Streifzügen innerhalb der
jüngeren Geschichte Europas feststellen, dass das, was in den westlichen
Nationen längst der Standard gewesen war, mitnichten innerhalb der EU zur
Anwendung gebracht worden wäre.
Ob Staats- oder Regierungschef:
Beiden wohnt inne, entweder direkt vom Volk gewählt oder von einem Hohen Hause,
dessen Zusammensetzung auf dem Ergebnis der Wahl eines Volkes gründet, abhängig
zu sein. Innerhalb der EU findet sich dies nicht. Zwar muss das Europäische
Parlament mittlerweile die gesamte Kommission abnicken, dies ist jedoch nicht
nur erst seit kurzem der Fall, sondern ohnehin nur ein äußerst stumpfes
parlamentarisches Recht. Immerhin wird das Parlament erst im Nachgang befragt,
dann, wenn es in den Hinterzimmern in Brüssel und anderswo bereits hochhergegangen
ist. In Nationalstaaten jedenfalls werden insbesondere die Chefs einer
Regierung, die sich in Europa hinter dem Begriff Kommission versteckt, von
einem Parlament gewählt und somit bestimmt.
In einem Nationalstaat wie
Deutschland herrscht auch immerhin so etwas wie Gewaltenteilung, wobei diese
richtigerweise eher als Gewaltenverschränkung bezeichnet wird, immerhin ist die
Exekutive auch Teil der Legislative und umgekehrt. In Europa jedoch gilt es als
unumstößliche Tatsache, dass der Kommission, eine Gruppe von nicht-gewählten,
durch nichts als dem Willen eines Staatenlenkers legitimierten Personen, in den
allermeisten Fällen das Initiativrecht bei den sogenannten Rechtsakten –
Gesetze darf man in Europa ja nicht sagen – zukommt. Dieselben Leute, die diese
Kommissare mitbestimmen, üben dann im EU-Ministerrat die Rechtssetzung
innerhalb Europas aus. Aber, immerhin, das Europäische Parlament darf seit dem
Vertrag von Lissabon, der hinsichtlich der Parlamentarisierung Europas als
Meilenstein im positiven Sinne angesehen werden muss, mitmachen.
Die Geschichte des Europäischen
Parlaments ist die eines demokratischen Feigenblatts. Sie ist auch Zeuge für
das Misstrauen der politischen Eliten gegenüber den eigenen Völkern. Auch wenn
die Politiker Europas in den letzten Jahren damit beschäftigt waren, den Laden
sprichwörtlich zusammenzuhalten und mit immer größeren monetären Feuerlöschern
zu hantieren, darf der eigentliche Fehler im politischen System Europas, die
als immer noch mangelhaft anzusehende Gestaltungsmöglichkeit des Europäischen
Parlaments, nicht außer Acht gelassen werden.
Natürlich, dies ist nicht die
Zeit, um über etwaige Reformen zu schwadronieren, Europa ist in der Krise und
muss gerettet werden, muss gerettet werden, muss gerettet werden… Es drängt
sich allerdings der Verdacht auf, dass in den vergangenen Jahren nie die Zeit
für ernsthafte und beherzte Veränderungen in dem komplizierten Geflecht Europa
war.
Statt zu versuchen, europäische
Verfassungen zu verabschieden und mit diesen die parlamentarische und somit
auch demokratische Leere innerhalb Europas manifestieren zu wollen, ist es an
der Zeit, tiefgreifende und längst überfällige Modifikationen am Eliten-Projekt
eines geeinten Europas vorzunehmen, eben um die Völker Europas für diese Idee
erneut begeistern zu können. Nehmen wir den Ministerrat als Beispiel, ehe wir
uns der Kommission zuwenden: In Deutschland wird der Kanzler vom Bundestag
gewählt, er ernennt im Anschluss daran seine Minister. Diese müssen nicht im
Bundestag sitzen, sie müssen auch keinen Wahlkreis gewonnen haben oder auf
einem guten Listenplatz stehen. Sie sind folglich nur durch den Kanzler
legitimiert, der Begriff der indirekten Legitimation findet auf die
Bundesminister Anwendung. Dieselben Bundesminister, die vom Kanzler indirekt
legitimiert wurden, werden auf europäischer Ebene aber mit einer Machtfülle
ausgestattet, die es mindestens fragwürdig erscheinen lässt, dass den
Notwendigkeiten einer demokratischen Rückkopplung gebührend Rechnung getragen
wurde.
Nimmt man sich der Rolle der
Kommission an, so wird man schnell feststellen, dass diese Institution aus
demokratischer Sicht eine höchst zweifelhafte Position im Gefüge der EU
einnimmt. Sie wird gemeinhin als „Regierung der EU“, mindestens aber als „Motor
der EU“ bezeichnet. Insbesondere das Initiativrecht führt zu diesen
Bezeichnungen. Eine Regierung initiiert Gesetze, die im Anschluss von einem
Parlament – in dem diese Regierung eine Mehrheit hat – verabschiedet werden.
Die Regierung ist also direkt abhängig von den Parlamentsabgeordneten, die
diese tragen: Ohne eine Mehrheit im Parlament gibt es keine Gesetze.
Diesem für eine repräsentative
Demokratie konstituierenden Fakt wird auf europäischer Ebene jedoch keine
Rechnung getragen: Es gibt keine Regierungskoalition und Opposition im
Europäischen Parlament. Stattdessen kommt dem Hohen Haus im Ganzen die Aufgabe
zu, die Auswüchse des Ministerrats oder der Kommission im besten Falle
abzumildern. Dies ist jedoch nicht die eigentliche Funktion eines Parlaments.
Parlamentarismus im engeren Sinne „(…)setzt
über die bloße Existenz eines Parlaments auch seine
gestaltende Kompetenz voraus. Auch in nicht
parlamentarisierten Monarchien oder in autoritären Regimen
kann es Parlamente im weiteren Sinne geben.
Spielen solche Volksvertretungen aber politisch
keine zentrale Rolle, kann höchstens von
einem ‚autoritären‘ oder gar ‚totalitären‘ Parlamentarismus
gesprochen werden.“[1]
Bloße Wahlen zum Parlament oder
die Bezeichnung einer Versammlung als Parlament reichen also nicht aus, um den
zu Recht hohen Ansprüchen an eine Volksvertretung Genüge zu tun. Was Europa
braucht, ist eine Neuordnung seines institutionellen Gefüges. Bei dieser
Neuordnung muss das Parlament im Zentrum stehen, von ihm muss zumindest die
Kommission abhängig sein, während der Ministerrat im Sinne einer zweiten Kammer
installiert werden müsste, auf ähnliche Art und Weise wie der Bundesrat in
Deutschland. Dadurch wären die drängenden Probleme von heute natürlich nicht
gelöst, wohl aber würde dies dazu führen, dass die demokratischen Defizite, die
die EU seit jeher aufweist, abgemildert oder sogar gänzlich aufgelöst werden
können. Es ist schlichtweg wesentlich für ein Parlament, dass es Gesetze oder
Rechtsakte oder wie auch immer man Gesetze bezeichnen möchte verabschiedet,
nach Möglichkeit allein beziehungsweise zusammen mit einer zweiten Kammer.
Dies wird die Befürworter einer
Renationalisierung Europas unter den Lesern natürlich nicht erfreuen, im
Gegenteil. Und ich kann die Bedenken nachvollziehen, bislang erschien die EU
nämlich oft als eine Krake, die sich nationalstaatliche Rechte einverleibt,
ohne darauf zu achten, das Demokratische sukzessive auszubauen. Diesem Umstand
gilt es Abhilfe zu schaffen. Dazu bedarf es aber nicht zwingend einer
Abwicklung der EU, auch wenn dieser klare Schnitt mittlerweile von immer mehr
Menschen befürwortet wird. Die Abwicklung der EU ist eine einfache Antwort auf
eine schwierige Frage, möglicherweise sprechen sich deshalb immer mehr Menschen
für diese Abwicklung aus. Einfache Antworten sind allerdings, wie jeder wissen
müsste, meistens nicht die optimalen, geschweige denn die einzig richtigen.
„Wir müssen mehr Parlamentarismus in Europa wagen“ ist zwar eine kurze,
mitnichten jedoch eine einfache Antwort auf die Frage, wie die EU in Zukunft
fortbestehen soll. Den Willen zu dieser Parlamentarisierung dürften wohl die
wenigsten Technokraten in Brüssel haben, folglich muss ihnen dieser von den
Völkern in demokratischen Wahlen aufgezwungen werden.
1: Nohlen, Dieter, Lexikon der Politikwissenschaft Band 2 N-Z, Verlag
C.H. Beck, München, 2005, Seite 652